
- «Reinventing Organizations − Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit» von Frederic Laloux (2015) und dasselbe visuell illustriert (2017) und animiert
- «Komplexithoden − Clevere Wege zur (Wieder)Belebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität» von Niels Pfläging und Silke Hermann (2015) und «Organisation für Komplexität − Wie Arbeit wieder lebendig wird und Höchstleistung entsteht» von Niels Pfläging (2014)
- «Das demokratische Unternehmen − Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft», herausgegeben von Thomas Sattelberger, Isabell Welpe und Andreas Boes (2015)
- «Alle Macht für niemand − Aufbruch der Unternehmensdemokraten» von Andreas Zeuch (2015)
- «Wir sind Chef − Wie eine unsichtbare Revolution Unternehmen verändert» von Hermann Arnold (2016)
- «Holacracy − Ein revolutionäres Managementsystem für eine volatile Welt» von Brian Robertson (2016), siehe auch die animierte Illustration
- «Was ist dran am Holokratie-Hype?» von Ethan Bernstein, John Bunch, Niko Canner und Michael Lee, in: Harvard Business Manager 01/2017, S. 38−49
- «Das kollegial geführte Unternehmen − Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen» von Bernd Oestereich und Claudia Schröder (2017)
- «Sociocracy 3.0 − Effective Collaboration at any Scale» von James Priest, Liliana David und Bernhard Bockelbrink (2017) http://sociocracy30.org/
- «Offenes Betriebssystem für Unternehmen» von Haufe (2017)
Stossrichtungen
Die vorgeschlagenen Lösungsansätze stossen in ihren Grundzügen trotz unterschiedlicher Begrifflichkeit und Ausprägung in eine ähnliche Richtung. Folgende stichwortartige Zusammenfassung offenbart die Konturen der Entwicklung:
- Von den Grundlagen her basieren die Beiträge mehr oder weniger explizit auf folgenden Theorien und Modellen:
- Systemtheorie, Sensitivitätsmodelle
- Evolutionäre Systeme, Organisation als lebendige Systeme
- Organisation als Kommunikationssystem
- Organisation als Betriebssystem, Holarchie
- Soziokratie, Netzwerke
- Demokratische Prozesse und Strukturen
- Relevanz des sozialen Kontextes
- Empirismus
- Organisation ad personam
- Schwarmintelligenz
- Positives Menschenbild, Theorie Y
- Als Prinzipien der Gestaltung werden wiederkehrend erwähnt:
- Dezentralisierung, Delegation, Peripherie, Enthierarchisierung, Subsidiarität
- Autonomie, Selbstbestimmung, Verantwortung, Eigenmotivation,
- Beziehungsdichte, soziale Dichte, Teamarbeit, Teamleistung, Co-Kreation, Zugehörigkeit, Communities
- Konsent (nicht zu verwechseln mit Konsens)
- Effektivität
- Wertorientierung, sinnstiftende Arbeiten, Sensemaking, evolutionärer Sinn
- Vertrauen
- Transparenz
- Gleichberechtigung, Respekt, Fairness, Ausgleich
- Innere Ganzheit, Authentizität, Integrität
- Iteration, evolutionär-experimentelle Entwicklung, kontinuierliche Verbesserung, Feedback, Lernen
- Bei den Organisationsstrukturen werden folgende Modelle sichtbar:
- Kreisförmige Organisationsformen, deren Bausteine je nach Autorenschaft Kreise, Zellen, Holons, Pods, Cabals resp. einfach Teams sind; Selbstorganisation dieser Teams, Aufgabenpools innerhalb der Teams
- Differenzierung der Kreise in wertschöpfungsmächtige Kreise/Teams (d.h. Teams, die über alle relevanten Disziplinen für die Wertschöpfung verfügen), Unterstützungskreise, Koordinationskreise, Delegiertenkreise, Beteiligungskreise, Praktikergruppen usw.
- Verbindung der Kreise mit übergeordneten resp. inneren Kreisen (je nach Darstellungsform) über einfache oder doppelte Verlinkung durch Entsendung gewählter Repräsentanten; Eigentümer bilden den obersten resp. den zentralsten Kreis; Bildung und Auflösung von unteren resp. äusseren Unterkreisen möglich
- Grösse von Teams bei ca. 10 Personen, von Einzelorganisationen bei ca. 200 Personen, auf Konzernebene keine klaren Grenzen
- Hierarchisch und fachlich nicht verankerte und übergreifende Innovations-, Arbeits- und Interventionsteams, Inkubatoren
- Rollen als Bausteine der Organisation, klare Definition der Rollen; Mitarbeitende können mehrere Rollen übernehmen und ihre Rollen neu verhandeln und wechseln, was zu einem besseren Match zwischen Aufgaben, Fähigkeiten und Entwicklungswünschen führt
- Konzeption der zentralen Funktionen als Servicekreise und Shops mit wertvollen Informations- und Organisationsleistungen für die Peripherie
- Hybride Organisationsmodelle mit einer Integration traditioneller und neuerer Ansätze: z.B. flache Hierarchien mit Souveränitätsschneisen, Machtkonzentration an der Spitze (Strategie und Finanzen) und im Bauch der Organisation (Empowerment, Innovation)
- Netzwerkorganisationen, Ausrichtung an informellen Strukturen, offene Systeme
- Entgrenzung der Organisation, Einsatz von externer Expertise, Arbeitsnomaden und Clickworkers, Open-Konzepte
- Eigentumsstrukturen und Governance, die Eigentümer- und Unternehmerschaft koppeln, die Mitwirkung der Mitarbeitenden sicherstellen und Gewinne nicht privatisieren, sondern dem Unternehmenszweck zukommen lassen, keine Gewinnabschöpfung, Mitarbeitendenbeteiligung
- Bezüglich der Führungsprozesse zeigen sich folgende Ansätze:
- Veränderung der Führungsrolle in Richtung «Arbeit am System»; Entwicklung und Sicherstellung der notwendigen Regelwerke und VerfassungenVerfassungen für die neuen Strukturen und die Selbstorganisation; organisationale Arbeit, Moderation und Unterstützung
- Governance-Meetings zur Definition und Veränderung von Rollen und Regeln,
(Ab-)Schaffung von Subkreisen, Wahl von Mitgliedern, Treffen von Vereinbarungen, Anpassung der Holokratie-Verfassung, Kreiskonstitutionen - Strategieentwicklung als gemeinsame Angelegenheit und Verantwortung; strategische Weiterentwicklung durch Erkennen neuer, sinnhafter Angebote in der gesamten Organisation; Orientierung am gemeinsamen Sinn, Abstimmung über Strategie, Umsetzung über Experimentieren und Lernen, regelmässige Strategiereviews sowie Kreisversammlungen zur Entscheidung über normative und strategische Fragen
- Delegation, Empowerment, Selbstführung, Eigenverantwortung und Sicherstellung der dafür notwendigen Voraussetzungen (inkl. Transparenz und Information)
- Kollegiale Führung, dynamische Verteilung der Führungsaufgaben auf mehrere Teammitglieder, Lead Links, Clou (d.h. Colleague Letter of Understanding)
- Fehlerkultur, Lerngruppen, Kulturentwicklung
- Förderung der Partizipation mittels der Vielzahl existierender Methoden (z.B. Open Space, Resonanzgruppen, Ausschüsse/Steuerkreise/Zirkel aller Art mit Vertretung von Mitarbeitenden, Einbindung in Projektteams, Diskussionsmarktplätze)
- Förderung der Mitbestimmung mit Hilfe strukturierter Entscheidungsverfahren, z.B. Konsent, integrativer Entscheidungsprozess, systemisches Konsensieren, Primat des Arguments, Entscheidung durch Mitarbeitende auf Basis eines strukturierten Beratungsprozesses (Beratung durch interne Know-how-Tragende und Betroffene), Abstimmungen
- Agile Planung, Scrum, Rapid Prototyping, Design Thinking
- Wahl von Mitarbeitenden und Vorgesetzten, Peer Recruiting, temporäre Recruiting-Teams, spiralförmige Karrieren
- Gruppenfeedback statt Leistungsbeurteilung, Entwicklungsplan für Teams und deren individuelle Mitglieder
- Personen- und nicht stellenbezogene Löhne, keine finanziellen Anreize, Leistungsprämien und Boni; kollektive Erfolgsbeteiligung, Vorschlag der eigenen Gehaltserhöhung und Beratung durch ein jährlich von Kollegen zusammengesetztes Gehaltsgremium, gleicher Lohn für alle (allenfalls mit Abstufungen)
- Eine vertiefte und teilweise auch kritische Reflexion der theoretischen Grundlagen und des erweiterten Kontextes findet sich bei Sattelberger et al. (2015).
- Sehr praxisorientiert, mit konkreten Orientierungskonzepten und Hinweisen zu Lösungsoptionen und Werkzeugen (bis hin zu Rollenbeschreibungen und Moderationstechniken) sind die Beiträge von Arnold (2016), Laloux (2015 und 2017), Pfläging/Hermann (2015), Sociocracy 3.0 und Zeuch (2015). Am weitesten ausgereift ist das Modell von Oestereich/Schröder (2017).
- Interessante Fallbeispiele werden in Arnold (2016), Laloux (2015 und 2017), Sattelberger et al. (2015) und Zeuch (2015) beschrieben.
Hinweise und Reflexion
Trotz der Vielzahl von Publikationen und den oft als innovativ angepriesenen Konzepten ist zu bemerken, dass manches nicht so neuartig und zumindest in der Schweizer Praxis − wenn auch unter anderen Vorzeichen und Begriffen − oft anzutreffen ist. Bei der Reflexion über die mögliche Umsetzung einzelner Ansätze in der eigenen Organisation können auch folgende, z.T. kritische Hinweise dienen:
- Der Handlungsbedarf ergibt sich aus einer kritischen Analyse der Ausgangslage und eines gewünschten Zustandes. Diesbezüglich ist zu bemerken, dass in den oben erwähnten Publikationen die heutigen Organisationen etwas zu plakativ und negativ als sehr hierarchisch, autoritär, zentralistisch und siloartig geführt beschrieben werden, mit allen Nachteilen, die solche Strukturen mit sich bringen. Bildlich wird die «Taylorwanne» als Referenz herbeigezogen. Die Realität ist aber viel bunter, lebendiger und auch partizipativer als angenommen. Die traditionelle Linienorganisation wird heute von einer Vielzahl transversaler, prozessorientierter, partizipativer und integrierender Strukturen, Koordinationsgefässe und Prozesse überlagert. So heben sich manche ihrer Nachteile auf. Zudem ist die kulturelle Realität der Schweiz eine andere als jene der Herkunftsländer mancher der Autoren und Autorinnen. Die Schweiz verfügt über ein tief verankertes basisdemokratisches Selbstverständnis, das auch den Modus Vivendi von Schweizer Unternehmen und Institutionen mitprägt. Schweizer Unternehmen gehören − vielleicht auch gerade deswegen − zu den innovativsten der Welt. Im Jahr 2017 steht die Schweiz auf Platz eins des Global Innovation Index. Nur schon aufgrund dieser Feststellungen ist es weise, den weiteren Handlungsbedarf achtsam zu eruieren, bevor man mit Konzepten herumzuexperimentieren beginnt, die im Rahmen anderer unternehmerischer und kultureller Realitäten entwickelt wurden und dort Sinn ergeben.
- Bezüglich der Beispiele und Erfahrungen kann auch auf die gesamte Praxis tendenziell demokratisch geführter Organisationen wie z.B. Verbände, Vereine, Genossenschaften, Gewerkschaften, politische Organisationen, bestimmte Stiftungen und NGOs, Verwaltungen und öffentliche Institutionen zurückgegriffen werden. Diese verfügen über ein umfassendes Repertoire, erprobte Konzepte und einen reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit partizipativen und demokratischen Prozessen. Interessanterweise werden solche Organisationen in den Publikationen gar nicht erwähnt. Eine kritische Untersuchung der Führung und Arbeitsorganisation in solchen Betrieben könnte aber die Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen der neuen Konzepte schärfen und deren Grenzen besser beleuchten.
- Zur Vielzahl der hervorgebrachten Lösungsansätze zur Agilisierung, Flexibilisierung und Demokratisierung der Organisationen zählen auch altbewährte Konzepte. Nicht alles ist so neuartig, wie es erscheint. Allerdings kommen einige grafisch gut und verständlicher aufbereitet, mit neuen Begriffen und etwas weiterentwickelt daher. Aber Methoden wie Open Space, Open Innovation, Inkubatoren, Scrum, Koordinationskreise, Personalfindungsgruppen, Workshops, Transversalstrukturen und Projektorganisationen aller Art sowie 360°-Feedback sind nicht neu. Zudem verfügt die Organisationslehre über ein noch viel umfassenderes Repertoire an agilisierenden, innovationsfördernden und partizipativen Instrumenten. Dazu gehören Qualitätszirkel, betriebliches Vorschlagswesen, betriebliche Mitbestimmung, paritätisch zusammengesetzte Kommissionen, Verflachung der Hierarchie und Verbreitung der Führungsspannen, Organisations- und Teamentwicklung, Resonanzgruppen, Job-Enrichment, Job-Enlargement, Job-Rotation, Coaching, Moderation, Konfliktmanagement und Mediation. Auch die «Kreisstrukturen» sind nicht gänzlich neu. Das Modell der überlappenden Kreise wurde ursprünglich in den 1960er Jahren von Rensis Likert entwickelt und ist heute in manchen Unternehmen institutionalisiert, auch wenn es bildlich nicht so dargestellt wird. Die Thematik rund um die Demokratisierung von Organisationen ist ebenfalls nicht neu. Die Grundlagen der Soziokratie wurden in den 60er Jahren von Gerhard Endenburg gelegt. In den 80er Jahren waren demokratische Mitwirkungs- und Mitbestimmungsansätze unter dem Titel der Humanisierung der Arbeit en vogue. Diese wurden in den 90er Jahren durch die Ideologie des Shareholder-Values abgelöst. Dennoch wurde am Thema weitergearbeitet, wie z.B. die Arbeiten von Wolfgang Weber (1999 und 2009) zur organisationalen Demokratie zeigen.
- In mehreren Publikationen wird die Organisation des Öfteren mit einem «Betriebssystem» gleichgesetzt. Organisationen sind aber keine rein technischen und mechanischen Systeme: Im Sinne des OSTO-Systemmodells sind sie eher als offene soziotechnische und ökonomische Systeme zu verstehen. Das Menschliche und Soziale ist mit all seinen Vor- und Nachteilen ebenso real und wirksam. Modelle der Selbstorganisationen können – wenn die Spielregeln nicht klar und akzeptiert sind – einen Nährboden für dysfunktionale Sozialdynamiken bilden. Druck aufgrund informeller Machtstrukturen, Gruppendynamik, Konflikte, Mobbing, sozialer Stress und Betrug sind Beispiele solcher Dynamiken. Die Annahme der Organisation als Betriebssystem wird der sozialen Realität nicht gerecht, die zwischenmenschlichen Probleme werden damit nicht gelöst.
- Die Modelle stellen sehr hohe Anforderungen an die sozialen Kompetenzen und die Reife der Mitarbeitenden und Führungskräfte und implizieren ein neues Führungsverständnis. Dem Idealprofil können die wenigsten in allen Situationen und auch unter Druck gerecht werden, weshalb die Umsetzung vermutlich oft mit umfassenden Massnahmen der Persönlichkeits- und Teamentwicklung einhergehen muss. Die Umsetzung der Selbstorganisation ist deshalb ein aufwendiges Vorhaben, und man muss gut prüfen, wo es sich lohnt.
- Die Frage, für welche Art von Aufgaben, Prozessen und Unternehmen sich agile und demokratischere Strukturen und Entscheidungsmechanismen eignen, wird in den meisten Beiträgen zu wenig reflektiert. Was z.B. für die kreativen Branchen, Hochschulen, Forschung und IT-Unternehmen passend sein mag, ist für Notfallservices, Piloten- und Polizeikorps, Atomkraftwerke und Sicherheitsdienste nicht die angemessene Lösung. Wo Verlässlichkeit und Regelmässigkeit gefragt ist, bedarf es vermutlich anderer Lösungen als wo Innovation zuoberst auf der Agenda steht.
- Manche fundamentalen Unternehmensprozesse und Themen werden in den neuen Veröffentlichungen noch ungenügend beachtet. So z.B. die strategische Gesamtsteuerung, die Finanzierung und Rentabilisierung grosser Investitionen, Corporate Governance, Compliance, rechtliche Zuständigkeiten, arbeitsrechtliche Fragen, Entlassungen, Führung und Steuerung übergreifender und globaler Wertschöpfungsprozesse und Plattformen, Prozessorientierung und Karrierepfade. Bei den einzelnen Hinweisen bleibt unklar, wie diese mit den erwähnten Modellen zu vereinbaren sind.
- Erstaunlich ist die im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung oft implizierte physische Nähe und Präsenz der Teammitglieder. Wie die Zusammenarbeit und Koordination über grosse räumliche Distanzen und Zeitzonen hinweg und in Teams mit Vielfliegern erfolgt, ist nicht erkennbar. Der Teamansatz und die Intensität des Austauschs erfordert viel Facetime.
- Nicht zu übersehen sind die wirtschaftlichen Interessen der Autorenschaft. Viele bieten entsprechende Beratungsleistungen an und nutzen den Kanal der Publikation, um ihre Ansätze, Erfahrungen und damit auch sich selber bekannter zu machen. Das erklärt die Begriffsvielfalt. Der Wettbewerb trägt aber auch dazu bei, dass das Wissen attraktiver aufbereitet und schneller verbreitet wird. Auch hier wird experimentiert.
© Dr. Gabrielle Schlittler (2017), http://www.vianova-blog.com/blog--herausgepickt/organisationskonzepte-der-zukunft