
Veränderungs- und Innovationsvorhaben werden heute viel gekonnter gestaltet und geführt als noch vor 15 Jahren. Projektarbeit ist – zumindest vom Prozessmanagement her – zur Routine geworden. Dazu beigetragen haben die Professionalisierung und Standardisierung des Change Managements, die zahlreichen Weiterbildungen zum Thema sowie die zunehmende Integration dieses Wissens in den Führungsalltag.
Allerdings fällt mir in der Praxis auf, dass unter der Standardisierung sowie den zunehmenden Bemühungen, Mitarbeitende mit auf den Weg zu nehmen, die Beachtung der fachinhaltlichen Aspekte weniger Raum bekommt. Breit angelegte Untersuchungen wie die Change-Management-Studie von Capgemini Consulting (2012, S. 26f.)[1] untermauern diese Beobachtung. Als Erfolgsfaktoren des Change Managements werden rein prozedurale Aspekte identifiziert, und für die Zukunft wird den emotionalen Aspekten eine höhere Bedeutung beigemessen. Die Relevanz der Fachlichkeit wird nicht erwähnt. Vorgehensfragen scheinen zu Lasten der Inhalte an Boden zu gewinnen. Dies führt oftmals zur trügerischen Annahme, im Projekt gut voranzukommen, was zwar vom Erreichen der Milestones her stimmen mag, aber nicht unbedingt auch auf die Qualität der inhaltlichen Entwicklung zutrifft. Hierzu einige Beispiele, wie das im Projektalltag geschieht:
- Projektteams werden von den zu involvierenden Stellen und Stakeholdern her zunehmend richtig und gut ausgewogen zusammengesetzt. Allerdings machen diese Teammitglieder denjenigen den Platz streitig, die aufgrund ihrer Fachkompetenz zwingend integriert werden sollten. Wenn deswegen die kritische Masse an Fach-Know-how nicht mehr erreicht wird, leidet auch die inhaltliche Qualität der Ergebnisse.
- Heute weiss man, welche Daten in der Analysephase zu erheben sind. Allerdings sind die Auswertungen nicht immer aufschlussreich, weil sie oft auf der deskriptiven Ebene verharren. Zahlen werden ungenügend ins Verhältnis gesetzt, gewürdigt, als gut oder schlecht bewertet und in Relation mit anderen Grössen gesehen. Es mangelt an der konzeptionellen Einordnung qualitativer und quantitativer Daten und der Herstellung der relevanten Zusammenhänge. So hat beispielsweise die Leitung einer Technologiefirma, die sich selbst immer noch in der Pionierphase sah, nicht bemerkt, dass ihre Analyseergebnisse wie „zunehmender Konkurrenzdruck“ und „sinkende Preise“ etc. darauf hinwiesen, dass sie mit ihrem Produkt bereits in der Reifephase angekommen waren. Mit dieser Erkenntnis konnte die Strategiefindung wesentlich qualifizierter geführt werden als mit Findings, die sie nicht einordnen konnte. Für die Interpretation von Analyseergebnissen braucht es zwingend die fachspezifische Expertise mit scharfem analytischem Blick und Mut zur Bewertung. Sonst hat man zwar vom Projektablauf her den Milestone Analyse erledigt und „grün“ markiert, aber nicht das erreicht, was man wollte, nämlich aussagekräftige Erkenntnisse, die helfen, die richtigen strategischen Entscheidungen zu treffen.
- Im Interesse des Change-Management-Erfolgsfaktors „Stakeholder beteiligen“ wird die Lösungsentwicklung oft breit abgestützt und mit allen Betroffenen und Interessengruppen besprochen. Vor der Entscheidung wird dann sorgfältig geprüft, ob die Ergebnisse auch auf Akzeptanz stossen. Dieses Vorgehen führt automatisch zu Kompromisslösungen, die zwar politisch tragfähig, aber von der inhaltlichen Lösung her nicht mehr unbedingt stimmig, widerspruchsfrei und zielführend sind. Griffige Lösungen können es selten allen recht machen – umgekehrt können Kompromisslösungen an Wirksamkeit einbüssen. Von der Prozessführung her mag dieses konfliktvermeidende Vorgehen kurzfristig angenehm sein und die Leute gewinnen. Aber die längerfristigen Auswirkungen können verheerend sein, wenn dadurch Unternehmen einmalige Chancen verpassen, die Lösungen nicht greifen und scheitern. Fehlt der Advokat für die Sachlösung, gewinnt die Kompromisslösung. Das kann in manchen Situationen sinnvoll sein, hat aber auch schon manche Unternehmen in den Ruin getrieben.
- Extern eingebrachte Lösungen werden aufgrund des „Not-invented-here-Syndroms“, des „Bei-uns-ist-alles-anders-Arguments“ u.ä. oft zu schnell verworfen. Die Grundsätze der Organisationsentwicklung, wonach die Lösungen am besten durch die Betroffenen selbst erarbeitet werden sollen, sind vom Change Management aufgegriffen worden. Das mag in bestimmten Situationen der richtige Ansatz sein, in anderen aber nicht. Bei fehlendem Know-how und ausgeprägter Betriebsblindheit braucht es Impulse von aussen. Die Blockade führt dazu, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, von aussen kommende Gedankenansätze gar nicht ernst genommen werden, auch wenn es genau diese sind, die das Denken öffnen und zu neuen – wenn auch anderen – Lösungen führen könnten. Statt sich die Zeit und Mühe zu nehmen, sich auf neue Ansätze einzulassen, Annahmen zu hinterfragen, lässt man es auf Kosten einer besseren Lösung zu, dass situationsbezogen unangemessene Glaubenssätze zum Vorgehen die Oberhand gewinnen.
- Reportings kommen heute mit Ampelsystem übersichtlich und professionell daher. Sie führen aber dazu, dass man sich auf die „roten“ Aspekte konzentriert. Über die „grünen“ Teile spricht man unter Zeitdruck seltener, und es wird folglich auch nicht genügend geprüft, ob diese von der inhaltlichen Lösung her zum Ziel führen. Schätzen Projektleitende einzelne Arbeitspakete als „grün“ ein, bleiben inhaltliche Diskussion, Würdigung und die allfällig notwendigen Einwände aus. Dank übersichtlicher Tools wiegt man sich in falscher Sicherheit über den Fortschritt des Projektes. So kann es geschehen, dass man zwar vom Prozessablauf her und zeitlich „on-track“, aber inhaltlich „off-track“ ist.
- Gelangen dann die Projektergebnisse in die obersten Entscheidungsgremien, fehlt es nicht selten an der notwendigen Fachkompetenz, um zu erkennen, ob die Lösungen sinnvoll sind. Besonders auffällig ist dies bei technisch komplexen Sachverhalten.
Fachlichkeit und Expertise als Erfolgsfaktor des Change Managements
Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine Integration des Fokus auf die fachinhaltlichen Aspekte in die Erfolgsfaktoren des Change Managements. Der entsprechende Erfolgsfaktor könnte „Sicherstellung der Fachlichkeit und Expertise“, „Sachorientierung und Fachkompetenz sicherstellen“ o.ä. lauten und soll das Augenmerk darauf richten, ob die notwendige Expertise und die inhaltlichen Aspekte in sämtlichen Teilen des Projektes genügend Beachtung und Priorität bekommen. Es geht notabene nicht darum, dass das Change Management bei der Lösungsentwicklung selbst Hand anlegt, sondern dass es die Bedingungen schafft, damit zielorientierte Lösungen überhaupt zustande kommen. Es geht auch nicht darum, die bisherigen Errungenschaften in Bezug auf die weichen Faktoren in Frage zu stellen, sondern um die Gewährleistung der bestmöglichen Kombination von lösungs- und akzeptanzfördernden Massnahmen im Change Management.
Indikatoren und Massnahmen
Wie können Change Manager konkret überprüfen, ob in ihrem Projekt der Erfolgsfaktor „Sicherstellung der Fachlichkeit und Expertise“ erfüllt ist? Was können sie für Massnahmen ergreifen, um der Anforderung gerecht zu werden? Auf Basis langjähriger Erfahrungen habe ich eine Vielzahl von Indikatoren und beispielhaft dazugehörige messbare Massnahmen identifiziert und in Form nachfolgender Checkliste zusammengefasst.
- In den Arbeitsgruppen und im Projektteam trifft man die internen Fachexperten und -expertinnen an
- Die Projektleitung verfügt über ein tiefes Verständnis des Sachverhaltes, kennt die inhaltlichen Zusammenhänge, kann fachliche Impulse geben und die Qualität und Wirkung der erarbeiteten Lösungen würdigen
- In der Projektsteuerung ist die entsprechende Fachexpertise vertreten
- Auf allen Ebenen sind so viele Fachkundige, dass sowohl vom Inhalt wie auch von der Gruppendynamik her eine qualifizierte Diskussion möglich ist (eine Person auf sieben reicht meistens nicht aus)
- Nebst den relevanten Führungsrollen wie dem „Prozessowner“, „Machtpromotor“ und „Projektsponsor“ o.ä. gibt es auch den „Fachowner“, „Lösungsowner“, „Lösungsadvokaten“ o.ä.
- Sind die Fachressourcen intern nicht vorhanden, werden sie von extern eingekauft und bedarfsgerecht in die Projektorganisation eingewoben
Es ist klar definiert, welchen inhaltlichen Kriterien die Lösungen genügen müssen
- Auf Ebene der Projektziele sind für eine erste Orientierung ein paar griffige Fachkriterien und Rahmenbedingungen definiert, denen die Lösungen genügen müssen
- Bei der Entwicklung von Lösungskonzepten und Teillösungen werden die Kriterien konkretisiert, denen sie genügen müssen
- Die Kriterien sind zielführend und so konkret und messbar wie möglich definiert
- Die Entscheidungsgremien kennen die Kriterien und sind mit ihnen einverstanden
Das neuste Wissen zum jeweiligen Sachverhalt fliesst ins Projekt ein
- Experten werden eingeladen
- Konferenzen werden besucht und das gewonnene Wissen intern diffundiert
- Gespräche mit Branchenspezialisten, Verbänden, Lieferanten, Lobbyisten etc. werden geführt
- Branchentrends werden erhoben
- Konkurrenten werden analysiert
- Es wird recherchiert, es zirkulieren Artikel zum Thema
- Projektmitglieder informieren regelmässig über neu gewonnene Erkenntnisse, es wird darüber geredet, auch ausserhalb der Projektsitzungen
Analyseergebnisse sind schlüssig, ergeben Sinn und bieten Orientierung
- Die Auswertungen sind analytischer Natur und nicht rein deskriptiv
- Zahlen werden ins Verhältnis gesetzt
- Aussagen werden konzeptionell eingeordnet
- Aussagen sind konkret
- Erkenntnisse werden bewertet, für gut oder weniger gut befunden
- Die Annahmen sind transparent und werden hinterfragt
- Ergebnisse werden von Fachexperten geprüft und gewürdigt (2nd Opinion)
- Aus den Ergebnissen können Konsequenzen und Anforderungen an die sachlichen Lösungen abgeleitet werden
Bei der Lösungsentwicklung wird in Optionen gedacht, und Lösungen werden mit Hilfe zielführender Kriterien bewertet
- Es wird in Optionen gedacht, und es werden verschiedene, in sich stimmige Lösungsoptionen erarbeitet (sinnvolle Kombinationen von Ausprägungen)
- Ergebnisse von Workshops und Veranstaltungen zur Ideensammlung und offenen Reflexion möglicher Lösungen werden zu in sich stimmigen und widerspruchsfreien Optionen gebündelt
- Vorschläge von Externen werden als Option integriert
- Die Optionen werden mit Hilfe der oben erwähnten Bewertungskriterien systematisch diskutiert und gewürdigt
- Die Vor- und Nachteile der Lösungen sind transparent
Lösungen werden fachinhaltlich mehrfach hinterfragt und geprüft
- Lösungen werden internen und/oder externen Fachexperten vorgelegt, die bei der Entwicklung nicht dabei waren und deshalb den Sachverhalt mit einem „frischen Blick“ würdigen können
- Lösungen werden von Vorgesetzten kritisch geprüft und hinsichtlich weiterer betrieblicher Zusammenhänge reflektiert
- Zweitmeinungen werden eingeholt
- Der Projektblindheit wird mit gezielten Massnahmen begegnet
Reportings fokussieren nicht nur auf prozedurale Aspekte (Erreichung von Meilensteinen, Budgeteinhaltung etc.), sondern geben auch Auskunft, inwiefern die Arbeiten inhaltlich „on-track“ sind
- Es besteht auch ein inhaltliches Monitoring und Reporting
- Das inhaltliche Monitoring orientiert sich an den Kriterien, denen die inhaltlichen Lösungen genügen müssen
- Die Projektsteuerung weiss, wo das Projekt inhaltlich steht, inwiefern die Arbeiten zielführend und welche inhaltlichen Probleme zu lösen sind
Interessenkonflikte werden mutig angepackt
- Interessenkonflikte, die sich aufgrund von Projektinhalten ergeben, werden aktiv angegangen
- Die Konfliktbewältigung muss diejenigen Kriterien stets im Auge haben, welchen die Problemlösung genügen muss
- Ein Fachspezialist ist in die Konfliktlösung involviert
- Werden inhaltliche Kompromisse im Interesse der Akzeptanz vorgenommen, sind die Argumente dafür und dagegen transparent zu machen und den Entscheidungsgremien vorzulegen